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AutorenbildMarko Thomas Scholz

Literaturtipp: Sinn und Existenz — Eine realistische Ontologie

Der Bonner Philosoph Markus Gabriel hält Weltanschauungen und Weltbilder jeglicher Provenienz für schädlich. Seine Philosophie macht sich deshalb kein Bild mehr von der Welt.


Markus Gabriels »Sinn und Existenz – Eine realistische Ontologie« nimmt den Leser mit auf eine tiefgehende Reise in die Ontologie und eröffnet ihm eine scharfsinnige Alternative zu klassischen phänomenologischen Ansätzen. Edmund Husserl und Markus Gabriel, das geht definitiv nicht zusammen. Gabriels Ontologie, der sog. »Neue Realismus«, bestreitet die These, wonach Realität primär durch menschliches Bewusstsein und Erfahrung konstituiert wird. Dadurch eröffnet Gabriel neue Denkräume jenseits der phänomenologischen Tradition und vollzieht, gewissermaßen, eine Abkehr von deren Grundannahmen.


Während die Phänomenologie Edmund Husserls die Welt als Bewusstseinsphänomen interpretiert und die Strukturen des Bewusstseins in den Mittelpunkt stellt, wendet sich Gabriel konsequent gegen eine derartige Reduktion von Wirklichkeit. Er lehnt den Gedanken ab, dass Existenz ausschließlich in und durch menschliches Bewusstsein manifest wird. Stattdessen beschreibt Gabriel eine Ontologie der »Sinnfelder«, in denen Realität auch unabhängig von unserer Wahrnehmung oder unserem Denken existiert. Durch diesen Ansatz lässt er den phänomenologischen »Turn to the Subject« bewusst hinter sich und liefert damit eine philosophische »Beerdigung« der klassischen phänomenologischen Fragestellung nach der Konstitution der Welt im Bewusstsein.


»Der Neue Realismus macht sich kein Bild von der Welt mehr.«

Gabriels »Neuer Realismus« grenzt sich also scharf von Husserls »Intentionaler Gegenstandsbestimmung« ab und vertritt die Ansicht, dass Sinn und Existenz in unzähligen Sinnfeldern unabhängig voneinander und auch jenseits des menschlichen Bewusstseins bestehen. Gabriel geht damit so weit, die Idee einer »Welt an sich« überhaupt zu verwerfen. Es gibt für ihn keine absolute Einheit oder Ganzheit der Welt, sondern nur vielfältige, sich überschneidende Sinnfelder, in denen die Realität auf je eigene Weise erscheint. Diese Weltauffassung entzieht dem menschlichen Bewusstsein die zentrale Rolle, die es in der Phänomenologie spielt, und rückt die Realität selbst ins Zentrum der Philosophie.


Gabriels Argumentation ist anspruchsvoll, aber klar und stringent dargelegt. Er legt dabei eine beeindruckende analytische Schärfe an den Tag, die das Buch auch für Leser mit Vorkenntnissen in Ontologie und Erkenntnistheorie zu einem Gewinn macht. Für diejenigen, die in der phänomenologischen Tradition verwurzelt sind, mag Gabriels radikale Kritik an der Subjektzentrierung jedoch herausfordernd oder gar provokant wirken. Dennoch besticht das Buch gerade durch seine Fähigkeit, die Leser zur kritischen Reflexion der Grundannahmen der Philosophie zu ermutigen und Husserls phänomenologische Ansätze in einem neuen Licht zu betrachten.


Insgesamt ist »Sinn und Existenz – Eine realistische Ontologie« ein prägendes Werk, das nicht nur eine theoretische Weiterentwicklung, sondern auch eine dezidierte Abgrenzung von etablierten philosophischen Positionen darstellt. Gabriels »Neuer Realismus« fordert die Leser heraus, sich von anthropozentrischen Weltanschauungen zu lösen und die Realität in ihrer unendlich vielschichtigen Struktur neu zu denken. Der Suhrkamp Verlag fasst dies trefflich im Klappentext zusammen: »Der Neue Realismus macht sich kein Bild von der Welt mehr.«


Sinn und Existenz—Eine realistische Ontologie von Markus Gabriel ist im Jahre 2016 bei Suhrkamp erschienen und kostet 22,00 €.



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